Stromproduktion

«Merit Order»: Klingt ko­misch, ist aber gut so

Die eu­ro­päi­schen Strom­prei­se rich­ten sich auf­grund des so­ge­nann­ten «Merit Order» stets nach den teu­ers­ten Pro­du­zen­ten, was die­sem Prin­zip viel Kri­tik ein­ge­bracht hat. Doch in Tat und Wahr­heit ist die «Merit Order» nichts als eine kom­pli­zier­te Be­zeich­nung für einen nor­ma­len Markt. Die­ser Markt sen­det mit den ex­plo­die­ren­den Prei­sen eine klare Bot­schaft aus: Es braucht schnell mehr Strom­pro­duk­ti­on. Die En­er­gie­po­li­tik soll­te sich dar­auf fo­kus­sie­ren.

Die Strom­prei­se schnel­len in die Höhe. Kurz­zei­tig waren Prei­se im Be­reich von zehn bis zwan­zig Mal des lang­jäh­ri­gen Mit­tels zu be­ob­ach­ten. Re­el­le Bei­spie­le il­lus­trie­ren die dra­ma­ti­sche Si­tua­ti­on für Wirt­schaft und Ge­sell­schaft: der Bä­cker, des­sen Strom­rech­nung vom sechs- in den sie­ben­stel­li­gen Be­reich springt; das Stahl­werk, das be­reits Kurz­ar­beit be­an­tragt, da seine Mo­nats­rech­nung höher ist als die letz­te Jah­res­rech­nung; oder die Ge­mein­de Saint-Prex, deren Haus­hal­te eine Strom­preis­stei­ge­rung von 1'600 Pro­zent zu­ge­mu­tet wird.

In der all­ge­mei­nen Ver­un­si­che­rung und Be­sorg­nis gerät ein ver­meint­lich ob­sku­rer Me­cha­nis­mus ins Fa­den­kreuz der Kri­tik: Der Me­cha­nis­mus der Strom­preis­set­zung, die so­ge­nann­te «Merit Oder».

Merit Order: ein Schul­buch­bei­spiel, wie ein nor­ma­ler Markt funk­tio­niert

Strom wird auf der Strom­preis­bör­se ge­han­delt. Dabei pas­siert, was in jeder Auk­ti­on pas­siert: Pro­du­zen­ten bie­ten ihr Pro­dukt feil, Kon­su­men­ten bie­ten für das Pro­dukt, und der Gleich­ge­wichts­preis setzt sich durch.

 

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Dies funk­tio­niert nach einem ein­fa­chen Prin­zip. In einem ers­ten Schritt wer­den alle ver­füg­ba­ren Strom­men­gen nach auf­stei­gen­dem Preis auf­ge­reiht (so­ge­nann­te «Merit Order», siehe gelbe und oran­ge Bal­ken in Abb. 1). Zu­erst kom­men die er­neu­er­ba­ren En­er­gi­en wie Solar- und Wind­kraft, denn dort stellt die Natur die En­er­gie zur Ver­fü­gung (Wind und Sonne kos­tet nichts), wes­halb die Pro­duk­ti­on von er­neu­er­ba­rer En­er­gie am bil­ligs­ten an­ge­bo­ten wer­den kann. Da­nach kommt meis­tens der Strom von Atom­kraft­wer­ken und zu­letzt Strom aus fos­si­len Quel­len, für des­sen Er­zeu­gung Brenn­stof­fe teuer ein­ge­kauft wer­den müs­sen. In einem zwei­ten Schritt kom­men die Nach­fra­ger ins Spiel. Lo­gi­scher­wei­se kau­fen sie umso we­ni­ger Strom, je teu­rer er ist, wes­halb die Nach­fra­ge in Abb. 1 mit einer sin­ken­den roten Linie dar­ge­stellt ist. Dort wo sich An­ge­bot (gelbe und oran­ge Blö­cke) und Nach­fra­ge (rote Linie) tref­fen, ist der Markt im Gleich­ge­wicht und es wird die Markt­men­ge zu Markt­prei­sen ge­han­delt. Alles, was rechts von der Markt­men­ge ist, wird nicht ab­ge­ru­fen, da zu teuer; alles, was links davon ist, wird zu einem ein­heit­li­chen Markt­preis ver­kauft. So weit, so ein­fach.

 

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Bei der En­er­gie ist das viel­leicht etwas abs­trakt. Das glei­che Prin­zip kann an­hand eines all­täg­li­che­ren Bei­spiels il­lus­triert wer­den. Stel­len wir uns vor, es gäbe nur einen Laden, in dem Eier zu einem ein­heit­li­chen Preis ver­kauft wür­den (es gäbe z.B. keine teu­ren Bio- oder bil­li­ge Bud­get-Eier). Nun gibt es drei Ei­er­pro­du­zen­ten: Der erste kann 100 Eier zum Preis von 0.50 Fran­ken pro Stück pro­du­zie­ren, der zwei­te 50 Eier zum Preis von 0.60 Fran­ken und der Drit­te 30 Eier zu einem Preis von 0.70. Das mög­li­che An­ge­bot auf dem Markt ist durch die gel­ben und oran­gen Blö­cke in Abb. 2 dar­ge­stellt.

Gleich­zei­tig gibt es in un­se­rem An­schau­ungs­bei­spiel nur vier Fa­mi­li­en, die in die­sem Laden Eier ein­kau­fen. Die erste klei­ne­re, aber wohl­ha­ben­de­re Fa­mi­lie möch­te 30 Eier und ist be­reit, bis zu einem Fran­ken pro Ei zu be­zah­len. Die zwei­te Fa­mi­lie möch­te 40 Eier zu ma­xi­mal 0.80 Fran­ken pro Stück, und die drit­te 50 Eier zu ma­xi­mal 0.70 Fran­ken pro Stück kau­fen. Die vier­te Gross­fa­mi­lie, die sehr auf das Geld ach­tet, möch­te 60 Eier, je­doch höchs­tens zu 0.50 Fran­ken pro Ei. Die Nach­fra­ge nach Eiern wird durch die rote Linie auf Abb. 3 dar­ge­stellt.

Wie im Strom­markt wird der Ei­er­pro­du­zent mit den höchs­ten Pro­duk­ti­ons­kos­ten, die noch im Markt ab­ge­setzt wer­den kön­nen, den Preis set­zen. Wenn es wie in jedem nor­ma­len Laden nur einen Ein­heits­preis für ein Pro­dukt gibt, dann wer­den 120 Eier zu einem Preis von 0.60 Fran­ken pro Stück ver­kauft. Bei einem hö­he­ren Preis wür­den plötz­lich noch mehr Pro­du­zen­ten pro­du­zie­ren, aber könn­ten ihre Eier nicht mehr ver­kau­fen. Bei einem tie­fe­ren Preis würde Pro­du­zent 2 unter sei­nen Kos­ten pro­du­zie­ren und Kon­kurs gehen.

Es ist wich­tig und rich­tig, dass der höchs­te Preis sich durch­setzt

Häu­fig wird kri­ti­siert, dass die Strom­pro­du­zen­ten Ge­win­ne ma­chen. Es ist aber ganz nor­mal, dass der Preis des teu­ers­ten Pro­du­zen­ten be­zahlt wird und der Rest der Strom­pro­du­zen­ten, die tie­fe­re Pro­duk­ti­ons­grenz­kos­ten haben, Ge­win­ne er­zie­len. Auch im obi­gen Bei­spiel des Ei­er­markts macht Pro­du­zent 1 einen Ge­winn von 10 (näm­lich auf 100 Eiern die Dif­fe­renz aus den Pro­duk­ti­ons­kos­ten von 0.50 und dem Markt­preis von 0.60 pro Ei), weil er bil­li­ger als Pro­du­zent 2 und 3 pro­du­ziert. Würde der Preis durch die Po­li­tik künst­lich tie­fer ge­setzt (also ge­de­ckelt wer­den), wären we­ni­ger Pro­du­zen­ten be­reit zu pro­du­zie­ren und die an­ge­bo­te­ne Menge würde sin­ken. Dies gilt auch für den En­er­gie­markt. Und üb­ri­gens: Ge­win­ne sind nichts Schlech­tes. Denn sie geben einen An­reiz, bil­li­ger zu pro­du­zie­ren und in neue Tech­no­lo­gi­en zu in­ves­tie­ren, oder sie er­mög­li­chen den Markt­ein­tritt von neuen Fir­men, dank denen das An­ge­bot aus­ge­wei­tet wird. Davon pro­fi­tie­ren die Kon­su­men­ten län­ger­fris­tig.

Die Strom­preis­ex­plo­si­on ist ein Zei­chen von En­er­gie­knapp­heit

Doch warum ver­zig­fa­chen sich die En­er­gie­prei­se in einem Jahr, wenn der Strom­markt ver­meint­lich ein so nor­ma­ler, ef­fi­zi­en­ter Markt ist? Ent­ge­gen der land­läu­fi­gen Mei­nung ist die Strom­preis­ex­plo­si­on nicht ein Zei­chen eines ka­put­ten Markt­me­cha­nis­mus, son­dern im Ge­gen­teil ein Be­weis, dass die­ser funk­tio­niert.

In letz­ter Zeit gab es ei­ni­ge schlech­te Nach­rich­ten für die En­er­gie­pro­duk­ti­on: 32 Kern­kraft­wer­ke in Frank­reich sind aus­ge­fal­len, ein schnee­ar­mer Win­ter hat un­se­re Was­ser­kraft­re­ser­ven in Mit­lei­den­schaft ge­zo­gen, Deutsch­land ist etwas über­has­tet den Atom­aus­stieg an­ge­gan­gen, Pu­tins Krieg in der Ukrai­ne hat die Gas­prei­se in die Höhe schnel­len las­sen, und wegen des Aus­falls an­de­rer En­er­gie­trä­ger wird mehr auf Ga­sener­gie ge­setzt und so wei­ter. Die Er­geb­nis­se sind auf Ab­bil­dung 3 il­lus­triert: Der «Merit Order» staucht sich und wird «höher», was auf dem Markt eben zu hö­he­ren Prei­sen führt, das heisst die Prei­se stei­gen in der Ab­bil­dung von P1 auf P2. Ein funk­tio­nie­ren­der Markt re­agiert auf Knapp­heit und Un­si­cher­heit mit Preis­stei­ge­run­gen, das ist nor­mal und rich­tig so.

 

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Es gibt keine über­zeu­gen­den Al­ter­na­ti­ven zur frei­en Preis­be­stim­mung auf dem Markt. Stel­len wir uns vor, der Staat greift ein und setzt die Prei­se fest (dar­ge­stellt durch die rote ho­ri­zon­ta­le Linie auf der rech­ten Seite der Ab­bil­dung 3). Ge­wis­se Staa­ten prak­ti­zie­ren das beim Strom be­reits und auch in der Schweiz wird das teil­wei­se dis­ku­tiert. Die Wir­kung ist aber kon­tra­pro­duk­tiv: Die Menge sinkt von M2 auf M3, da es sich für die teu­re­ren Kraft­wer­ke nicht mehr lohnt zu pro­du­zie­ren. Auch gäbe es we­ni­ger An­reiz für Strom­kon­su­men­ten, En­er­gie zu spa­ren und ef­fi­zi­ent damit um­zu­ge­hen. In einer Zeit von Strom­m­an­gel­la­ge, En­er­gie­knapp­heit und Kli­ma­wan­del ist das das Ge­gen­teil von dem, was wir wol­len.

Grund­le­gen­de Pro­ble­me an­pa­cken, statt hohe Strom­prei­se be­kämp­fen

«Merit Order» ist ein ge­flü­gel­tes Wort aus dem Fach­jar­gon, das lei­der Miss­trau­en weckt. Aber in Tat und Wahr­heit ist der Strom­markt ein völ­lig nor­ma­ler Markt. Dass die Strom­prei­se ver­rückt­spie­len, hat nichts mit die­sem bis vor Kur­zem un­be­kann­ten Be­griff zu tun, son­dern mit bis vor Kur­zem un­vor­her­seh­ba­ren Mark­ter­eig­nis­sen. Egal wie wir es nen­nen: Wir haben ein En­er­gie­pro­blem.

An­statt also die «Merit Order» zu kri­ti­sie­ren, müs­sen wir das grund­le­gen­de Pro­blem an­ge­hen: Wir brau­chen immer mehr Strom und wir bauen des­sen Er­zeu­gung nicht ge­nü­gend schnell aus. Da ge­nü­gend Strom die Grund­la­ge un­se­rer mo­der­nen Ge­sell­schaft und die wei­te­re Elek­tri­fi­zie­rung Vor­aus­set­zung für die Be­kämp­fung des Kli­ma­wan­dels ist, gibt es nur eine Lö­sung: Mehr Strom pro­du­zie­ren, dann sin­ken auch die Prei­se wie­der. Das Par­la­ment berät in der Schweiz mo­men­tan eine dafür sehr wich­ti­ge Vor­la­ge, den so­ge­nann­ten Man­tel­erlass. Die­ser ver­ein­facht den Zubau von Er­neu­er­ba­ren und spricht auch För­der­mit­tel. Es bleibt zu hof­fen, dass der Na­tio­nal­rat die­sen Win­ter eine grif­fi­ge Vor­la­ge ver­ab­schie­den wird.